Neues Langzeitprojekt der HAW: Die "Weltchronik" des Johannes Malalas – lange verkannt – wird nun endlich erschlossen

Neues Akademien-Langzeitprojekt an der Universität Tübingen

 

Heidelberg/Tübingen, den 16.11.2012

In das Akademienprogramm 2012 der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften kann ein langfristiges Forschungsvorhaben der Heidelberger Akademie der Wissenschaften an der Universität Tübingen neu aufgenommen werden. Unter der Leitung des Tübinger Althistorikers Professor Mischa Meier soll in einem Zeitraum von zwölf Jahren ein umfassender historisch-philologischer Kommentar zur Weltchronik des byzantinischen Historiographen Johannes Malalas (geboren um 490 n. Chr.) erarbeitet, der diesen Text der Wissenschaft und einem interessierten Publikum erstmals vollständig erschließen wird. Das Projekt startet zum 1. Januar 2013 und wird mit jährlich etwa 220.000 Euro gefördert. Mit Zuwendungen von insgesamt 54,4 Millionen Euro, die von Bund und Ländern für 2012 bewilligt wurden, stellt das Akademienprogramm der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften das größte deutsche Förderprogramm für Geisteswissenschaften dar.

 

Meister Von San Vitale In Ravenna 

Kaiser Justinian I. (482-565), zu dessen Regierungszeit Malalas seine Weltchronik verfasste. Detail der Chormosaiken in San Vitale in Ravenna. Quelle: The York Project, wikicommons

 

„Mit diesem Projekt wird eine lange Ablehnung der byzantinischen Geschichtsschreibung durch die Wissenschaft endlich überwunden“, erläutert Mischa Meier. „Man hielt diese Texte für Literatur minderen Ranges, verfasst von ungelehrten Mönchen, die ganz stupide und mechanisch ältere Vorlagen zusammengefasst hätten und denen dabei die aberwitzigsten Irrtümer unterlaufen seien. Mittlerweile hat man erkannt, wie eminent wichtig der Text ist. Ziel ist es nun, mit Johannes Malalas nicht nur einen ‚Urvater‘ der byzantinischen Chronistik zu erschließen, sondern darüber hinaus auch anhand eines zentralen Beispiels neue Erkenntnisse über den Umgang mit der Vergangenheit in der Umbruchzeit zwischen Spätantike und Frühmittelalter zu gewinnen.“

 

Im 6. Jahrhundert n. Chr. verfasste Johannes Malalas in griechischer Sprache seine Weltchronik, die in 18 Büchern die Geschichte der Menschheit von Adam bis in die Gegenwart des Autors behandelt. Im ersten Drittel dieses Werks steht alttestamentarisches Geschehen im Vordergrund, in den anschließenden Büchern zur griechischen und römischen Geschichte verlagert sich der Schwerpunkt auf die römische Königs- und Kaiserzeit. Über den Verfasser selbst weiß man kaum etwas, anders als noch vor wenigen Jahren hält man ihn mittlerweile aber nicht mehr für einen ungebildeten Mönch, sondern vermutet sein eigentliches Tätigkeitsfeld eher in der höheren Provinzverwaltung des Oströmischen Reiches. In dieser Position muss er Einsicht in bedeutende Akten und Archive gehabt haben, was gerade für die letzten Bücher seines Werkes, in denen die damalige Zeitgeschichte behandelt wird, wichtig war. Mit dem Jahr 563 bricht der Text der Chronik ab, Malalas selbst dürfte kurze Zeit danach verstorben sein; seine Spuren verlieren sich.

 

Für die historische Forschung ist die Weltchronik von ausgesprochen hohem Wert. Denn sie stellt das früheste erhaltene Beispiel einer byzantinischen Weltchronik dar, also einer historiographischen Gattung, die auch andere mittelalterliche und spätere Formen von Geschichtsschreibung nachhaltig beeinflusst und geprägt hat. Der Umgang, den man im ‚byzantinischen Jahrtausend‘ mit Geschichte pflegte, und die Art und Weise, wie dies sehr häufig geschah, lässt sich an der Chronik des Johannes Malalas exemplarisch studieren. Hier lässt sich beispielhaft die Konzeption von Vergangenheit durch einen christlichen Autor im Oströmischen Reich an der Schwelle von der Antike zum Mittelalter studieren. Malalas‘ Werk ist außerdem wichtig für die Rekonstruktion der Ereignis- und Politikgeschichte, aber auch für mentalitäten-, kultur- und religionsgeschichtliche Fragestellungen, und bietet in den entsprechenden Feldern Informationen, die das übrige Material zu dieser Zeit in solchem Maße nicht liefert.

 

Schließlich bietet Johannes Malalas wichtige Sachinformationen zu unterschiedlichen Aspekten der Geschichte des Altertums. Mischa Meier nennt ein Beispiel: „Bei Malalas finden wir eine ganz andere Darstellung des Verhältnisses, das Nero zu den Christen gepflegt haben soll. Dort erscheint der Kaiser sogar als ein besonderer Christenfreund. Malalas liefert uns damit wichtige Hinweise darauf, dass in der Spätantike offenbar auch andere Meinungen über Neros Umgang mit den Christen diskutiert wurden – selbst in christlichen Milieus“.

 

Erschwert wird die Erschließung dadurch, dass der Originaltext, der sog. Ur-Malalas, nicht erhalten ist, sondern nur eine im Mittelalter gekürzte Version, deren handschriftliche Überlieferung überdies Lücken aufweist. Man kann aber Teile der ursprünglichen Chronik rekonstruieren: aus späteren byzantinischen Chronisten, die sich noch auf einen vollständigeren Malalas-Text stützen konnten, aus späterer syrischer Überlieferung oder auch aus einer mittelalterlichen slawischen Übersetzung. All dies jedoch ist kompliziert und erfordert eine intensive Einarbeitung in die Materie. Mittlerweile ist die Auseinandersetzung mit der spätantiken bzw. mittelalterlichen Chronistik ein wichtiges Forschungsfeld geworden. Im Zuge dieser ‚Renaissance‘ konnte auch mehr Licht in die Überlieferung des Malalas-Textes gebracht werden: Seit einigen Jahren liegt eine Edition des griechischen Textes vor, der wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, vor kurzem wurde in Tübingen (in Vorbereitung des Kommentars) eine deutsche Übersetzung angefertigt.

 

Es ist geplant, den an der Universität Tübingen entstehenden Kommentar zunächst im Internet zu veröffentlichen und dort ständig zu ergänzen. Erst mit Abschluss des Projekts soll er dann auch in Buchform veröffentlicht werden. Auf jährlichen Tagungen sollen zudem wichtige systematische Fragen diskutiert werden, die sich aus der Beschäftigung mit der Chronik ergeben. Die Erträge dieser Tagungen werden jeweils zeitnah in Form von Sammelbänden publiziert werden. Dieses Forschungsprojekt ist eines von derzeit 22 Forschungsprojekten der Heidelberger Akademie und zugleich ihr drittes Großprojekt im Bereich Archäologie/ Altertumswissenschaften, das an der Universität Tübingen angesiedelt ist: In den vergangenen Jahren starteten bereits die Projekte „The Role of Culture in Early Expansions of Humans" aus der Urgeschichte und „Der Tempel als Kanon der religiösen Literatur Ägyptens" aus der Ägyptologie.

 

Kontakt:

Prof. Dr. Mischa Meier

Universität Tübingen

Philosophische Fakultät

Seminar für Alte Geschichte

Wilhelmstr. 36

72074 Tübingen

Telefon +49 7071 29-78520

mischa.meier[at]uni-tuebingen.de

 

Die Universität Tübingen Innovativ. Interdisziplinär. International. Seit 1477. Die Universität Tübingen verbindet diese Leitprinzipien in ihrer Forschung und Lehre, und das seit ihrer Gründung. Sie zählt zu den ältesten und renommiertesten Universitäten Deutschlands. Im Exzellenzwettbewerb des Bundes und der Länder konnte sie sich mit einer Graduiertenschule, einem Exzellenzcluster sowie ihrem Zukunftskonzept durchsetzen und gehört heute zu den elf deutschen Universitäten, die als exzellent ausgezeichnet wurden. Darüber hinaus sind derzeit fünf Sonderforschungsbereiche, sechs Sonderforschungsbereiche Transregio und fünf Graduiertenkollegs an der Universität Tübingen angesiedelt. Besondere Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Integrative Neurowissenschaften, Medizinische Bildgebung, Translationale Immunologie und Krebsforschung, Mikrobiologie und Infektionsforschung, Molekularbiologie der Pflanzen, Geo- und Umweltforschung, Astro-, Elementarteilchen- und Quantenphysik, Archäologie und Anthropologie, Sprache und Kognition, Bildung und Medien. Die Exzellenz in der Forschung bietet den aus aller Welt kommenden Studierenden der Universität Tübingen optimale Bedingungen für ihr Studium. Über 27.000 Studierende sind aktuell an der Universität Tübingen eingeschrieben. Ihnen steht ein breites Angebot von mehr als 250 Studiengängen und Fächern zur Verfügung, das ihnen Tübingen als Volluniversität bietet. Dabei ist das forschungsorientierte Lernen dank einer sehr engen Verflechtung von Forschung und Lehre eine besondere Tübinger Stärke.

www.uni-tuebingen.de

 

Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften, gegründet 1909, ist die wissenschaftliche Akademie des Landes Baden-Württemberg und eine der acht deutschen Akademien der Wissenschaften. Als außeruniversitäre Forschungseinrichtung verantwortet sie derzeit 22 Forschungsvorhaben, in denen etwa 230 Mitarbeiter beschäftigt sind. Die rund 260 gewählten Mitglieder der Heidelberger Akademie treffen sich als herausragende Vertreter ihrer jeweiligen Disziplin regelmäßig zum fächerübergreifenden Gespräch, die Akademie veranstaltet wissenschaftliche Tagungen sowie öffentliche Vortragsreihen. Mit der 2002 erfolgten Einrichtung eines Nachwuchskollegs (WIN-Kolleg), der Ausrichtung der „Akademiekonferenzen für junge Wissenschaftler“ sowie durch die Vergabe von Forschungspreisen fördert sie herausragende jüngere Exponenten der Wissenschaft.

www.haw.baden-wuerttemberg.de

verantwortlich: Redaktion