Zwei neue Forschungsvorhaben für die Heidelberger Akademie der Wissenschaften

„Der Tempel als Kanon der religiösen Literatur Ägyptens“ und

„Klöster im Hochmittelalter: Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle“

 

Projekt 1:

Unter dem Titel „Der Tempel als Kanon der religiösen Literatur Ägyptens“ wird eine von Prof. Dr. Christian Leitz (Institut für die Kulturen des Alten Orients IANES, Abteilung Ägyptologie) geleitete Forschungsstelle an der Universität Tübingen eingerichtet.

 Philae Blick Auf Den Zweiten Pylon

Bild 1: Foto: Christian Leitz / Philae: Blick auf den zweiten Pylon

 

Beschreibung und Ziele:

Nachdem im Jahr 332 v. Chr. Alexander der Große Ägypten erobert und 306 sein ehemaliger General Ptolemaios die Dynastie der Ptolemäer begründet hatte, setzte schon unter den ersten Herrschern überall im Land ein gewaltiges Bauprogramm ein, dessen Wurzeln vielleicht schon in der 30. Dynastie lagen, das jetzt aber im großen Stil durchgeführt wurde und über 400 Jahre lang bis in das 2. nachchristliche Jahrhundert andauern sollte. Die Tempel wurden in bis dahin nicht gekanntem Umfang mit Inschriften versehen, die mannigfaltige Aufschlüsse zu Kult- und Festgeschehen, religiöser Topographie, Mythen und Göttergruppen, Baugeschichte und Raumfunktionen bieten. Auch wenn der größte Teil dieser Bauwerke nicht mehr erhalten ist, so sind mittlerweile doch schon mehr als 10.000 Seiten hieroglyphischer Text aus diesen von manchen nicht ganz zu Unrecht als Bibliotheken aus Stein bezeichneten Tempeln publiziert. Zu den bekannten fünf großen Tempeln (Dendara, Esna, Edfu, Kom Ombo und Philae) gesellt sich als sechster der von Athribis, der seit einigen Jahren von einem deutsch-ägyptischen Team unter Tübinger Leitung (Christian Leitz, Rafed El-Sayed, Yahya El-Masry) freigelegt und publiziert wird.

Beabsichtigt ist in dem Akademieprojekt eine schrittweise inhaltliche Erschließung des größten und bei allen zeitlichen und geographischen Unterschieden doch zusammengehörenden Textkorpus Altägyptens. Diese Tempeltexte gehören bislang – trotz großer Anstrengungen einzelner – zu den am meisten vernachlässigten Bereichen der Ägyptologie. Das Einzigartige an diesem Korpus ist neben dem Umfang und dem häufig hervorragenden Erhaltungszustand nicht zuletzt die Tatsache, dass sich im Gegensatz zu meist aus dem Handel stammenden Papyri nahezu alle Inschriften und Darstellungen noch an ihrem ursprünglichen Anbringungsort befinden.

 

Das neue Projekt der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hat sich drei große Ziele gesetzt:

1. Eine Klassifizierung, d.h. eine Form-, Motiv-, Struktur- und Inhaltsanalyse des überaus vielfältigen Textmaterials: Hier wird eine umfassende Datenbank erstellt als Arbeitsgrundlage für die weitere Arbeit, die vor allem eine Herausarbeitung der einzelnen Gattungen beabsichtigt, welche der Eigenbegrifflichkeit ägyptisch religiöser Texte Rechnung trägt.

2. Die Analyse der Texte, die auf verschiedene Weise erfolgen wird: Ein erstes Feinziel ist hier die Funktionsbestimmung der Texte unter Berücksichtigung ihres Anbringungsortes, d.h. hier geht es um die Wechselbeziehungen von Text und Architektur. Ein zweites Feinziel ist die Verankerung dieser Texte innerhalb der Tradition der religiösen Literatur Ägyptens. Es sollen Antworten gefunden werden auf die Frage, ob es Vorläufer dieser Texte in inhaltlicher, formaler und funktionaler Hinsicht gibt. Das dritte und letzte Feinziel betrifft ein in der Ägyptologie weitgehend vernachlässigtes Feld: Die Erschließung der altägyptischen Philologie, die sich auch mit der symbolisch/allegorischen Ausdeutung der Hieroglyphen beschäftigen wird (ein Faszinosum in der Renaissance, ein unterschätztes Thema in der modernen Wissenschaft).

3. Eine Gesamtdeutung der Texte, die sich mit der Art der Kodifizierung der religiösen Traditionen Ägyptens in den Tempeln der griechisch-römischen Zeit beschäftigt. Selbst wenn man auf Grund der aufs Ganze gesehenen wenigen Paralleltexten in den verschiedenen Tempeln wohl nicht von einem Kanon religiöser Texte im Sinne einer allgemeinen Verbindlichkeit reden kann, so soll doch der Frage nachgegangen werden, ob es nicht auf einer höheren Ebene der Funktion eine Verbindlichkeit im Bereich der Tempeldekoration gegeben hat. Diese noch herauszuarbeitende überregionale Verbindlichkeit soll kontrastiert und dadurch deutlicher sichtbar gemacht werden durch die Bestimmung der lokalen Eigenheiten der unterschiedlichen Kultzentren Ägyptens, soweit diese eben noch durch die erhaltenen Tempeltexte greifbar sind.

 

Projekt 2:

Die zweite Forschungsstelle unter dem Titel „Klöster im Hochmittelalter: Innovationslabore europäischer Lebensentwürfe und Ordnungsmodelle“ wird unter der Leitung der Prof.res Dr. Bernd Schneidmüller und Dr. Stefan Weinfurter, (Institut für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Heidelberg) sowie Prof. Dr. Gert Melville (Katholische Universität Eichstätt und Institut für Mittelalterliche Geschichte an der Technischen Universität Dresden) mit insgesamt zwei Arbeitsstellen an den Universitäten Heidelberg und Eichstätt eingerichtet.

  Kreuzgang In Der Abtei Moissac

Bild 2: Foto: Gert Melville / Kreuzgang in der Abtei Moissac

 

Beschreibung und Ziele:

Mit dem zweiten Langzeitvorhaben wird der Heidelberger Akademie der Wissenschaften durch das Akademienprogramm ermöglicht, ein großes historisches Projekt durchzuführen, das Grundlagenforschung mit neuen kulturwissenschaftlichen Perspektivierungen zu verbinden sucht. Anhand eines umfangreichen und bislang wenig bearbeiteten Textcorpus wird die klösterliche Welt des Mittelalters als eine Wegbereiterin der Moderne analysiert werden.

 

Mittelalterliche Klöster entwickelten im sozialen und religiösen Wandel des 11. bis 13. Jahrhunderts, verbunden mit stärker verinnerlichter Frömmigkeit, eine bislang unerreichte Rationalität der Lebensgestaltung. Klösterliche Gemeinschaften prägten in jener Zeit die europäischen Vorstellungen von Gemeinschaftsbildung und Individualisierung wesentlich mit. Sie lehrten Europa die Rationalität der Planung, der Normsetzung, der formell geregelten Verfahrensabläufe, des Einsatzes pragmatischer Schriftlichkeit, des Gebrauchs von Symbolen, des Umgangs mit Eigentum und Besitzlosigkeit, der Arbeitsteilung, der Güterzuweisung, der ökonomischen Betriebseffizienz. Sie erprobten bei sich erfolgreich die rationale Gestaltung gesellschaftlicher Systeme und eröffneten dadurch der europäischen Gesellschaft den Weg zu neuen Konstruktionen von Staatlichkeit. Sie testeten die Grenzen der rationalen Erkenntnis durch die Technik der scholastischen Dialektik aus und sprengten sie auf durch die individuellen Erfahrungen der Mystik. Sie lehrten den Menschen eine verinnerlichte Ethik der Lebensführung und vermittelten ihnen damit ein entscheidendes Orientierungswissen im Umgang mit sich selbst und den Anderen; sie deuteten ihnen programmatisch die Natur, das Leben und das Jenseits.

Damals entstanden in Klöstern und Orden Modelle jenes gesellschaftlichen wie kulturellen Aufbruchs, aus denen sich spezifische Ordnungskonfigurationen der europäischen Moderne ausformten. Das neue Heidelberger Akademienprojekt „Klöster im Hochmittelalter: Innovationslabore europäischer Lebens-Entwürfe und Ordnungsmodelle“ will in einer Verknüpfung von textorientierter Grundlagenforschung und kulturwissenschaftlicher Perspektivierung diese Fundamente europäischer Ordnungen erforschen. Damit stellt es eines der Grundmodule der europäischen Kulturgeschichte in den Mittelpunkt.

                                                       

Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften, gegründet 1909, ist die wissenschaftliche Akademie des Landes Baden-Württemberg und eine der acht deutschen Akademien der Wissenschaften; 2009 feiert sie ihr 100-jähriges Jubiläum. Als außeruniversitäre Forschungseinrichtung verantwortet sie derzeit 20 Forschungsvorhaben, in denen etwa 220 Mitarbeiter beschäftigt sind. Die rund 180 gewählten Mitglieder der Heidelberger Akademie treffen sich als herausragende Vertreter ihrer jeweiligen Disziplin regelmäßig zum fächerübergreifenden Gespräch, die Akademie veranstaltet wissenschaftliche Tagungen sowie öffentliche Vortragsreihen. Mit der 2002 erfolgten Einrichtung eines Nachwuchskollegs (WIN-Kolleg), der Ausrichtung der „Akademiekonferenzen für junge Wissenschaftler“ sowie durch die Vergabe von Forschungspreisen fördert sie herausragende jüngere Exponenten der Wissenschaft.

 

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Dr. Herbert v. Bose

Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

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Letzte Änderung: 24.05.2018